Fiat 600 (1955-1969): Der italienische Volkswagen wird 70

Bis heute steht der erste Seicento im Schatten des legendären 500

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Ob Italien, Spanien oder Jugoslawien: Dieses kleine Auto mit Vierzylinder im Heck machte den Süden mobil. Nein, die Rede ist nicht vom VW Käfer. Sondern vom ersten Fiat 600, der vor 70 Jahren seine Premiere feiert. Wir blicken auf den kultigen Kleinwagen zurück.

Inzwischen hat Fiat den Namen 600 reaktiviert, er prangt an einem kompakten SUV, welches optisch den Elektro-500 zitiert. Vor sieben Jahrzehnten ist es genau andersherum: Zunächst erscheint der gut 3,30 Meter lange 600 mit Vierzylinder im Heck, zwei Jahre später der kleinere Nuova 500 mit zwei Zylindern weniger. Beide werden in den 1960er- und 1970er-Jahren zu den Volksautos des Südens. 

Fiat 600 (1955-1969)

Premiere in Genf

Genfer Auto-Salon 1955: Fiat läutet die Zukunft ein. Das Modell 600 ist nicht nur der Nachfolger des seit 1936 gebauten Topolino. Mit wassergekühltem Vierzylinder im Heck und selbsttragender Karosserie markiert der Fiat 600 für das Turiner Unternehmen gleichzeitig ein vollkommen neues technisches Konzept. Ingenieur Dante Giacosa hat eine Limousine konstruiert, die durch relativ geringen Materialverbrauch und wirtschaftliche Fertigung im Fiat Stammwerk in Turin einen Listenpreis von 590.000 Lire ermöglicht - der neue Kleinwagen mit vier Sitzen ist damit auch für den durchschnittlich verdienenden Arbeiter erschwinglich.

Die moderne und robuste Technik trägt ihren Teil zum Erfolg des Fiat 600 bei. An der Vorderachse sind Einzelradaufhängungen an Dreiecksquerlenkern mit einer quer liegenden Blattfeder kombiniert, an der Hinterachse setzt Giacosa auf Einzelradaufhängungen mit Federbeinen und Längslenkern. Eine Zuladung von 310 Kilogramm ist erlaubt. Die hinten angeschlagenen Türen ermöglichen bequemes Einsteigen auch auf die beiden Sitzplätze im Fond.

Anfangs hat der Heckmotor einen Hubraum von 633 Kubikzentimeter und leistet 23 PS (16 kW). Dank des geringen Gewichts - leer sind es weniger als 600 Kilogramm - erreicht der Fiat 600 damit knapp 100 km/h im vierten Gang. Anders als zum Beispiel bei einigen Konkurrenzmodellen (wie etwa dem VW Käfer) ist der Vierzylinder wassergekühlt. Dadurch funktioniert die Heizung auch im Winter.

Erste Serie bis 1960

1956 präsentiert Fiat eine zweite Karosserievariante mit über das gesamte Dach reichendem Rollverdeck. Von der ersten Serie werden fast 900.000 Stück gebaut. 1960 kommt der Fiat 600D mit größerem Motor mit 767 Kubikzentimeter. Nun treiben 29 PS (21 kW) die Hinterachse an, die Höchstgeschwindigkeit steigt dadurch auf 110 km/h. Äußere Kennzeichen sind größere Rückleuchten und die unter die Hauptscheinwerfer verlegten Blinkleuchten.

Mit der Modellpflege 1965 - und nach über zwei Millionen in Turin gefertigten Exemplaren der zweiten Baureihe - weichen die hinten angeschlagenen Türen der vorne angeschlagenen Version. Der auf 31 Liter vergrößerte Tank verbessert die Reichweite. Weitere Änderungen sind größere Scheinwerfer, der Wegfall der seitlichen Chromzierleisten und ein neues Markenlogo vorne.

Der 600 weltweit

Der weltweiten Nachfrage nach einem preiswerten Familienfahrzeug kommt Fiat mit zahlreichen Lizenzvergaben entgegen. In vielen Ländern spielen Derivate des 600 eine entscheidende Rolle in der Motorisierung breiter Bevölkerungsschichten. Im damaligen Jugoslawien läuft der Seicento als Zastava 750 vom Band. Auf spanischen Straßen rollt er als Seat 600. Knapp 800.000 Stück verlassen zwischen 1957 und 1973 das Werk in Barcelona, darunter auch eine einzigartige viertürige Variante mit verlängertem Radstand.

In Österreich baut Steyr das Modell. Zwischen 1970 und 1982 fertigt Fiat Argentinien rund 160.000 Exemplare des mit dem Spitznamen Fitito versehenen Kleinwagens in zwei Varianten, in geringen Stückzahlen als Lizenz auch in Uruguay, Chile und Kolumbien. Sogar vier Karosserieversionen baut NSU-Fiat in Deutschland unter den Modellnamen Jagst 600 und Jagst 770. Insgesamt 170.000 Stück entstehen, darunter auch der extrem rare, von Giovanni Michelotti für Vignale entworfene Spider "Riviera".

Die Turiner Carozzeria Vignale hat gleich eine ganze Palette von Derivaten des Fiat 600 und des Fiat 600 Multipla im Angebot, vom Coupé über diverse Strandwagen bis zu Kleintransportern mit seitlicher Schiebetür und Pritschenwagen. Die auf Fiat 500 und 600 basierenden "Jolly", die keine Türen, dafür ein buntes Stoffdach haben, gehören auf Golfplätzen und in italienischen Seebädern zum Straßenbild. Auch Miotti und Moretti bauen Sonderkarossen auf Basis des Fiat 600, es gibt sogar einen Geländewagen.

Die mit Abstand leistungsstärksten Varianten entstehen beim Veredler Carlo Abarth. Von Anfang an setzt der geborene Österreicher auf Hubraumerweiterung, um die im Tourenwagen-Rennsport üblichen Grenzen auszuschöpfen. Aus zunächst 750 Kubikzentimeter holt er bereits über 40 PS. Abarth beschränkt sich dabei nicht auf die im Werk gefertigte Limousine. Gemeinsam mit Boano entwirft er den Spider 210A. Die Carozzeria Zagato fertigt die Aluminium-Karosserie mit den charakteristischen Auswölbungen im Dach (double bubble") eines ursprünglich für Rekordfahrten entwickelten Coupés.

Im Abarth 750 Zagato GT Bialbero hat das Vierzylinder-Triebwerk sogar zwei Nockenwellen, fast 60 PS sind die Folge. Immerhin noch Teile des Chassis vom Fiat 600 stecken in den Coupés Abarth 1000 Zagato und Abarth Monomille. Abarth setzt auch einen grellbunt lackierten Fiat 600 Multipla als Werbeträger für seine Sportauspuffanlagen ein.

Aus Sportlimousine und Renntourenwagen Abarth 750 (ab 1956) wird durch erneute Hubraumerweiterung der Abarth 850 Turismo Competizione (ab 1960), der zum ersten Mal den charakteristischen Ölkühler unter der vorderen Stoßstange aufweist. Den Motor bohrt Abarth schließlich sogar auf knapp 1.000 Kubikzentimeter auf. Genug für über 100 PS im Abarth 1000 TC (ab 1966). Das sportlichste aller 600-Derivate ist bei Tourenwagenrennen in seiner Klasse nahezu unschlagbar.

Der erste Minivan der Geschichte

Schon ein Jahr nach der Fiat 600 Limousine landet Fiat den nächsten Coup. 1956 erscheint der Fiat 600 Multipla, ebenfalls eine Konstruktion von Dante Giacosa. Die geringfügig verlängerte Bodengruppe, die Vorderachse mit Einzelradaufhängungen und Federbeinen vom Fiat 1100 sowie die Verlagerung von Fahrer- und Beifahrersitz über die Vorderachse ermöglichen hinten den Einbau einer dritten Sitzbank. Dadurch finden bis zu sechs Personen Platz - bei nur 3,50 Meter Außenlänge. Die beiden hinteren Sitzbänke lassen sich außerdem zu einer fast ebenen Ladefläche nach unten klappen.

Mit diesem Konzept ist der viertürige Fiat 600 Multipla die erste Großraumlimousine der Welt und der Urahn aller heutigen Minivans. Karriere macht der Fiat 600 Multipla als Shuttle-Fahrzeug, viele leisten im Gästeservice von Hotels oder bei Taxi-Unternehmen Dienst. Als Kleintransporter Fiat 600T wird er zum treuen Helfer unzähliger Handwerker. Rund 77.000 Exemplare werden zwischen 1956 und 1960 gebaut.

Aus der subjektiven Distanz eines halben Jahrhunderts gesehen, steht der Fiat 600 etwas im Schatten des zwei Jahre später präsentierten Fiat 500. Doch zu ihrer Zeit begegnen sich beide Modelle auf Augenhöhe. Alleine im Stammwerk in Turin werden bis 1969 knapp 2,7 Millionen Fiat 600 gebaut, zeitweise für damalige Produktionsmethoden erstaunliche 1.000 Stück pro Tag. Die weltweit gefertigte Stückzahl des Fiat 600 inklusive aller Karosserie- und Motorversionen summiert sich auf knapp fünf Millionen. 

Ende erst in den 1990ern

Nach der Einführung des Fiat 850 im Jahr 1964 führt der 600 mehr und mehr ein Schattendasein. Zwischen Fiat 500 und 850 positioniert, schrumpften seine Verkaufszahlen. In Italien wurde seine Produktion 1969 eingestellt. Aber bis in die 1970er-Jahre gibt es eine deutsche Fangemeinde, die immer wieder bestellt, zuletzt den in Deutschland als Fiat 770 S angebotenen Seat, der laut Fahrzeugpapieren bei Seat in Barcelona gebaut wird.

In Deutschland wird der Fiat 770 erst nach der Einstellung der Produktion in Spanien im Jahr 1973 endgültig aus dem Angebot genommen. Noch bis 1985 entsteht in Jugoslawien der Zastava 750, zuletzt mit auf 850 ccm vergrößertem Motor. Das Fahrzeug wird nach der Produktionseinstellung in Jugoslawien noch bis 1995 in der Türkei von Tofaş weitergebaut, danach endet die Produktion endgültig.

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