Die 470 Kilometer WLTP-Reichweite sind realistisch
Der nach dem Polarstern benannte Elektro-Ableger von Volvo bringt mit dem Polestar 2 im August sein zweites Modell auf den Markt. Während der Polestar 1 ein Plug-in-Hybrid mit recht heftigem Preis ist, handelt es sich beim Polestar 2 um ein eher erschwingliches Elektroauto mit sportlichen Ambitionen.
Das Auto gehört in die Mittelklasse; als Konkurrenten werden trotz der fossilen Antriebe Audi A4, BMW 3er, Mercedes C-Klasse genannt, außerdem das Tesla Model 3. Der Elektroantrieb des Polestar 2 entspricht im Wesentlichen dem des Volvo XC40 Pure Electric. Mit zweimal 150 kW also insgesamt 408 PS bietet er jede Menge Power und mit 470 Kilometer (WLTP) auch eine ordentliche Reichweite. Wir haben den Polestar 2 auf einer kurzen Ausfahrt in und um München herum getestet; dabei haben wir auch auf den Stromverbrauch geachtet.
So schick wie der Polestar 1 ist Modell Nummer 2 zwar lange nicht, aber die Optik ist eigenständig, vor allem am Heck. Der Wagen ist keine "Protz-Karre", er bleibt schlicht, zum Beispiel bei der Darstellung des Markenemblems auf der Fronthaube (in Wagenfarbe).
Und der Polestar 2 wirkt wesentlich kantiger als der Konkurrent Tesla Model 3. Design gehört laut Deutschland-Geschäftsführer Alexander Lutz denn auch zu den Polestar-Kernwerten: Unsere Kunden schätzen gutes Design und suchen etwas Besonderes, so Lutz. Also wie Volvo, frage ich. So ähnlich, meint er, aber Volvo legt den Akzent mehr auf Sicherheit, während Polestar auf Performance setzt.
Knallige Farben wie bei Ferrari oder Lamborghini gibt es beim Polestar 2 allerdings nicht: Die fünf Autos, die Polestar nach München mitgebracht hat, sind schwarz, weiß, hellgrau und dunkelgrau.
Am Polestar 2 sieht man, was der per Videokonferenz zugeschaltete Polestar-Chef Thomas Ingenlath meint, wenn er sagt: Wir stehen zwischen der chinesischen Konzernmutter Geely mit ihrem nicht von Traditionen belasteten Denkweise und dem traditionsreichen Autohersteller Volvo mit fast 100 Jahren Erfahrung.
Einerseits gibt es am Polestar 2 Vieles, was an Volvo erinnert, angefangen bei der Thors-Hammer-Lichtsignatur, über das typische Volvo-Lenkrad bis hin zur Gestaltung der Luftausströmer. Die Affinität zur modernen Digitaltechnik ist aber ebenfalls deutlich spürbar. So nutzt das Anzeigesystem Android als Betriebssystem. Man kann es mit "Ok, Google" ansprechen und es antwortet. Wenn man möchte, erzählt es auch Witze. Und die Navigation basiert auf Google Maps.
Das Instrumentendisplay zeigt mir beim Einsteigen die Navi-Karte an; anders als bei Volvo kann man hier aber verschiedene Ansichten wählen. In der Mitte des Cockpits gibt es außerdem ein senkrecht angeordnetes, großes Display.
Die Displays und das Kartenbild sind ansehnlicher als bei Volvo, aber immer noch ziemlich schlicht. Hingucker-Gimmicks wie das zweidimensionale Instrumentendisplay des Peugeot 2008 oder die 3D-Google-Earth-Ansicht im VW Touareg (mit spektakulären schneebedeckten Bergen, wenn man durchs Gebirge fährt) sucht man hier vergeblich. Auch die vom Handy gewohnte Satellitenansicht von Google Maps wird nicht angeboten. Das würde zu sehr ablenken und bringt keine Vorteile bei der Navigation, erklärt uns Ingenlath. Ein bisschen Volvo-Denke hat sich die Marke also bewahrt.
In Sachen Materialien kann der Polestar 2 nicht mit Mercedes mithalten; so bestehen einige Teile (zum Beispiel die Ablagefächer der Türen) aus sehr einfachem Hartplastik. Optisch ist das Cockpit aber gelungen.
Was Ingenlath sehr wichtig war, ist der Ease of Use. Und einfach bedienbar ist der Polestar 2. Zum Beispiel hat der Wagen keinen Startknopf. Zum Wegfahren bewegt man einfach den Automatikhebel auf "D" und los geht's. Mit der Einführung des Digital Key (Ende des Jahres) kann auch der Fahrzeugschlüssel daheim bleiben, dann öffnet sich das Auto, wenn man sich mit dem Handy in der Tasche nähert. Auch der Sitz fährt dann in die gespeicherte Position.
Viele Knöpfe hat der Polestar 2 nicht. Das meiste wird über das Display eingestellt, so auch die Klimaanlage. Die Stärke der Rekuperation lässt sich ebenfalls hier einstellen. Schnell mal die Rekuperation für ein Gefälle umstellen, ist also hier kaum sinnvoll. Beeindruckend ist, dass man sogar den Kriechgang an der Ampel an- oder ausstellen kann - das habe ich sonst noch nirgends gesehen.
Auch die Stärke der Rekuperation wird hier geregelt. Dabei setzt Polestar ganz auf das berühmte One-Pedal-Driving, offenbar eines von Ingenlaths Lieblings-Features an dem Auto. Das Fahren mit nur einem Pedal klappt in der Tat sehr gut, wie ich schon auf den ersten Metern merke. In der Standardeinstellung (maximale Rekuperation, Kriechgang aus) kommt man tatsächlich in aller Regel ohne Bremspedal aus.
Mit ein wenig Übung gelingt mir auch ein akzeptabler Ampelstopp: Beim Umschalten auf Rot lasse ich das Pedal nicht einfach los wie beim Verbrenner, sondern verringere den Druck langsam. Am Haltepunkt bleibt das Auto dann komplett stehen, da der Kriechgang ja ausgeschaltet ist. Perfekt, ich liebe dieses Feature, seit ich es bei der Vorstellung des BMW i3 kennengelernt habe. Leider ist das nicht bei allen Elektroautos möglich.
Vom Norden Münchens aus fahre ich mit dem vollgetankten Polestar zunächst einmal quer durch die Stadt; die 408 PS der Elektroantriebs sind im dichten Verkehr nicht mal ansatzweise erfahrbar. Aber auf der Autobahn nach Garmisch aber gehe ich dann doch aufs Gas, und bevor ich mich versehe, stehen knapp über 200 km/h auf dem Tacho. Schwierigkeiten, die Höchstgeschwindigkeit (205 km/h) zu erreichen, kennt der Polestar 2 also nicht. Und die Beschleunigung ist gewaltig.
Die Rechnung folgt, als ich am südlichen Endpunkt meiner Ausfahrt einen Blick auf den Stromverbrauch werfe: 26,3 kWh/100 Kilometer. Das ist heftig. Beim Zurückfahren nehme ich mich mehr zusammen, schwöre ich mir. Nicht weil ich Angst habe, dass mir der Saft ausgeht (die Anzeige steht immer noch auf 83%). Ich will einfach wissen, wie viel Strom das Auto bei alltagsgemäßem Gebrauch braucht.
Das Ergebnis (ich nehme es schon mal vorweg) verblüfft sogar Polestar-Geschäftsführer Alexander Lutz: 14,8 kWh/100 km, so wenig hat Polestar selbst nie hingekriegt, sagt Lutz. Dabei war ich nun wirklich nicht übermäßig sparsam gefahren. Mit diesem Verbrauch sind die angegebenen 470 Kilometer jedenfalls machbar - 72 kWh netto geteilt durch 14,8 ergeben sogar 486 km.
Am Wendepunkt mache ich Fotos und erkunde dabei gleich den sonstigen Innenraum. Mein Auto hat das Performance-Paket an Bord, daher hat es goldfarbene Brembo-Bremsen und Gurte im selben Farbton.
Die Sitze bieten eher wenig Seitenhalt. Auf meiner wenig kurvigen Route fällt das nicht negativ auf, aber auf Serpentinenstrecken dürfte das anders sein. Und es passt nicht zu einer Marke, die sich "Performance" auf die Fahnen schreibt. Im Fond habe ich als 1,75 Meter großer Sitzriese zwar mehr als genug Platz für die Beine, am Kopf wird es allerdings knapp:
Auch der Kofferraum ist in Sachen Alltagstauglichkeit nicht optimal. Zwar bietet die große Heckklappe einen sehr guten Zugang, aber die abgeschrägte Karosserieform hinten führt dazu, dass hohe Gegenstände schwer unterzubringen sind:
Ebenfalls ein Minus in Sachen Alltagstauglichkeit ist das kleine Heckfenster; wegen der nicht klappbaren hinteren Kopfstützen wird der Ausblick nach hinten noch schlechter:
Praktisch (und für verspielte Autoredakteure wie mich faszinierend) ist dagegen das Rundum-Kamerasystem, bei dem man zwischen den vier Kameras hin- und herschalten kann. Beim Zurücksetzen bremst der Polestar 2 sogar automatisch, wenn das Display nicht lügt:
Nützlich dürfte auch das aufklappbare Brett sein, mit dem sich Einkäufe gegen das Verrutschen sichern lassen:
Auch vorne hat der Polestar 2 einen Kofferraum, der aber hauptsächlich dazu dient, die Ladekabel ordentlich unterzubringen. Hier findet sich ein Typ-1-Kabel für das "Oma-Laden" an der Haushaltssteckdose und eines für die Wechselstrom-Ladesäule.
Aufgeladen wird über einen CCS-Anschluss hinten links. An der Schnellladesäule soll es nur 40 Minuten dauern, bis wieder 80 Prozent erreicht sind. Den Wert, bis zu dem geladen wird, kann man über das Display einstellen. 11 kW werden mit Wechselstrom erreicht, 22 kW sind also nicht möglich. Beim Aufladen ist der gerade erreichte Ladezustand von außen sichtbar:
Wegen des verbauten Performance-Pakets ist mein Testauto straffer abgestimmt als die Normalversion. Ein Journalisten-Kollege erzählt, dass andere Tester dieses Fahrwerk ziemlich hart fanden, aber in der Hinsicht habe ich nichts zu bemängeln habe: Ja, der Wagen ist straff, aber nicht hart. Aber der Eindruck hängt eben (außer von persönlichen Vorlieben) stark von den befahrenen Straßen ab, und die waren auf meiner Ausfahrt gut geteert.
Eine Schrulle leistet sich Polestar in Sachen Stoßdämpfer: Zum Performance-Paket gehören adaptive Dämpfer von Öhlins, der aus dem Tuningbereich kommt. Daher lassen sich die Dämpfer sich nicht wie üblich über Schalter im Cockpit einstellen, sondern nur per Schraube.
Die Polestar-Mannen zeigen, wie es geht: Vorne schlägt man die Räder ein und muss dann bis zum Ellbogen tief in den Radkasten fassen, um eine (natürlich goldfarbene) Schraube zu drehen: sechs Rasten in Richtung "sportlich" oder sechs in Richtung "komfortabel". Da hinten die Stoßdämpfer andersherum eingebaut sind, braucht man hier die Hilfe der Werkstatt, die das Auto aufbockt und das Rad abnimmt.
Die derzeit angebotene Version kostet 57.900 Euro. Dieser Preis versteht sich allerdings noch mit 19 Prozent Mehrwertsteuer. Rechnet man mit 16 Prozent und zieht die Förderung von 7.900 Euro ab, kommt man auf 48.540 Euro. Damit ist das Auto deutlich günstiger als der gleich motorisierte Volvo XC40 Pure Electric.
All dies bezieht sich auf die derzeit angebotene Launch Edition, die ab August ausgeliefert wird. Wer erst jetzt bestellt, soll das Auto im Oktober bekommen. Ab Ende August können Interessenten das Auto in sieben deutschen Städten testen; Informationen dazu sollen über den Polestar-Newsletter mitgeteilt werden. Der anfangs angekündigte Polestar-2-Preis von unter 40.000 Euro wird 2021 wahr werden. Dann wird eine Version mit kleinerer Batterie, nur einem Motor (vorne) und weniger Ausstattung nachgeschoben.
408 PS und 660 Newtonmeter Drehmoment, Sprint in 4,7 Sekunden: Die Daten versprechen nicht zu viel, der Polestar 2 begeistert in Sachen Beschleunigung, und das bis zur Höchstgeschwindigkeit. Aber dass Elektroautos viel Fahrspaß bieten, dürfte sich inzwischen ja herumgesprochen haben. Viel Freude macht mir persönlich auch das One-Pedal Driving.
Die Reichweite von 470 Kilometer ist geringer als beim Model 3 Long Range (560 Kilometer). Doch Polestar setzt eben stark auf Optik, und da hat die kantige Charakteristik des Polestar eben aerodynamische Nachteile gegenüber der "flutschigen" Art des Tesla. Beim Design muss man Polestar aber viele interessante Einfälle bescheinigen - im Gesamtbild (vor allem am Heck) wie auch im Detail (rahmenlose Außenspiegel, Polestar-Logo als Easter Egg im Glasdach).
Schrullig wirkt allerdings der Einsatz von adaptiven Dämpfern, die sich nur per Schraube einstellen lassen. So etwas passt weder zum Premium-Anspruch (Anzugträger machen sich nicht gern die Hemdsärmel schmutzig) noch zum Ease-of-Use-Anspruch von Polestar. Der Bedienungsfreundlichkeit verpflichtet sind auch die Anzeigen. Das führt dazu, dass manche schicke Hingucker (von denen sich der Autor zugegebenermaßen gerne blenden lässt) verboten bleiben.