Der Long Range schafft theoretisch über 600 km, die Google-Bedienung ist ein Traum und auch sonst macht der Hersteller viel richtig ...
Alle Hersteller wollen heute irgendwo "Premium" sein. Okay ... nur Dacia vielleicht nicht. Aber wenn man ansonsten ehrlich ist, gibt es kaum einen Volumen-Autobauer, der sich nicht gerne mit irgendwelchen dahin gebogenen Aussagen rühmt.
Im Gegensatz dazu: Renault. Die französische Marke hat nämlich über die letzten Jahre irgendwie still und heimlich angefangen, technisch verdammt gute und optisch auch noch ansprechende Autos zu entwickeln. Nur so richtig erzählt haben sie es - vor allem der deutschen Kundschaft - noch nicht wirklich.
Wir denken an kommende Produkte wie den R4 oder den R5, die wunderbar auf der Retro-Welle surfen sowie den Megane, der eine schicke Alternative zum MEB-Einheitsbrei ist. Oder eben jetzt - ganz aktuell - an den Renault Scénic E-Tech Electric.
Mit seinem markanten Design, vermeintlich cleveren technischen Lösungen und einer versprochenen WLTP-Reichweite, die selbst Reichweitenangst-Patienten beruhigen könnte, versucht der Renault Scénic E-Tech Electric nun, die Herzen der E-Auto-Kaufenden zu erobern. Gelingt ihm das? Und wie schlägt sich der französische Hoffnungsträger im Alltag? Wir waren dafür für 14 Tage mit dem 220 Long Range-Modell unterwegs ...
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Der Renault Scénic E-Tech Electric tritt auf wie ein klassischer Franzose: stilvoll, elegant, leichtfüßig und immer mit einer Prise Exzentrik. Mit seinen 4,47 Metern Länge und einer Höhe von nur 1,57 Metern ist er deutlich kompakter als viele seiner Segment-Konkurrenten. Während der VW ID.4 wie ein bulliger (aber trotzdem rundgeschliffener) Mitteleuropäer wirkt, hat der Scénic den Charme eines (vielleicht etwas zu) kantigen Parisers. Diskussionsstoff liefert besonders die Front im Rautenmuster, deren Design auch Spider-Man hätte absegnen können.
Die Farbpalette spricht ebenfalls für die kreative Ader von Renault: Wer auffallen möchte, wählt das leuchtende Rot (inklusive in der Basisausstattung "Techno"). Wer es dezenter mag, greift zu "Perlmutt-Weiß" mit einem in "Black-Pearl-Schwarz" abgesetzten Dach für 1.550 Euro zusätzlich. Letzteres wirkt besonders in der sportlichen Esprit Alpine-Version so edel, dass man fast einen Smoking im Auto tragen möchte.
Noch ein Satz zu den Türgriffen, die echte Multitasker sind: Eingefahren, wenn das Auto verriegelt ist, fahren sie bei Annäherung aus. Anders als bei Tesla muss man dabei keine akrobatischen Fingerverrenkungen vollführen. Punkt für Renault! Und jetzt: Einsteigen ...
Der Innenraum empfängt die Passagiere mit einem Hauch von französischem Chic. Zwei 12-Zoll-Displays (in der Long-Range-Variante) machen das Cockpit zur fantastisch verarbeiteten Multimedia-Schaltzentrale. Dabei ist Renault clever: Eine Reihe physischer Tasten ergänzt den Touchscreen, sodass man nicht jedes Mal auf der Suche nach der Sitzheizung ins Technik-Nirvana abdriften muss.
Das Google-basierte Navigationssystem glänzt nicht nur mit einer Ladeplanung, die so durchdacht ist, dass man fast erwartet, sie würde unterwegs auch noch Restaurantempfehlungen aussprechen. Auch sonst ist das System einfach ungelogen die beste Infotainment-Software, die man sich aktuell in einem Auto vorstellen kann. Sorry, Tesla-Fans. Sorry, deutsche Premium-Hersteller.
Ganz allgemein ist der Platz im Scénic zudem großzügig bemessen: Mit einer Körpergröße von über 1,80 Meter fühlt man sich immer noch wie ein König - Beinfreiheit hinten inklusive. Das Panorama-Glasdach sorgt für noch mehr Kopffreiheit und macht den Himmel über der Autobahn zum ständigen Begleiter.
Der Kofferraum ist mit 545 bis 1.670 Litern beeindruckend groß. Ein höhenverstellbarer Ladeboden hilft, die 25 Zentimeter hohe Ladeschwelle zu zähmen. Renault nennt das "praktisch", wir nennen es trotzdem eine Workout-Einheit für die Rückenmuskulatur.
Der 160-kW-Antrieb in Verbindung mit der 87-kWh-Batterie ist kein Rennwagen-Material, bringt den Scénic aber flott und geschmeidig voran. Wer eine Drag-Race-Challenge mit einem Model Y Performance plant, sollte allerdings vorher nochmal überdenken, ob das wirklich eine gute Idee ist.
Doch im Alltag überzeugt der Scénic durch sein komfortables Fahrverhalten. Das Fahrwerk mit den optionalen 20-Zoll-Felgen ist ein perfekter Kompromiss: Es schluckt Schlaglöcher, ohne dass man glaubt, auf einem Trampolin zu sitzen, und bleibt auch bei Autobahntempo souverän.
Die Rekuperation, steuerbar über Lenkradpaddles, ist ein praktisches Feature: Im Stadtverkehr kann man fast komplett auf das Bremspedal verzichten, auch wenn echtes One-Pedal-Driving (noch) nicht möglich ist. Renault verspricht, diese Funktion nachzuliefern. Die teilautonomen Fahrfunktionen arbeiten ansonsten überraschend zuverlässig. Der adaptive Tempomat übernimmt Tempolimits auf Knopfdruck, der Spurhalteassistent hält das Auto gut in der Spur. Nur in seltenen Fällen blieb er tatenlos.
Die Ladeleistung ist ein zweischneidiges Schwert: Während der Scénic mit 22 kW Wechselstrom beeindruckt - ein echter Vorteil an öffentlichen Ladesäulen im urbanen Raum -, fällt das Gleichstrom-Laden mit 37 Minuten für 15-80 % und maximal 130 kW eher gemütlich aus. Für einen längeren Roadtrip muss man also den Reiseführer einpacken, um die Wartezeit sinnvoll zu nutzen.
Der Stromverbrauch ist erfreulich niedrig. Also ... zumindest auf dem Papier oder unter optimalen Bedingungen. Erstaunliche 15,7 kWh/100 km konnte Kollege Leichsenring beim Erstkontakt und lauen Temperaturen herausfahren. Im deutschen Herbst-Winter-Alltag sind es im Durchschnitt dann schon 20,9 kWh/100 km.
Dafür bietet einem der Scénic aber eine clevere Reichweitenanzeigen, die nicht nur den WLTP-Wert, sondern auch realistische Daten für unterschiedliche Szenarien berechnen. Wir schaffen so praxisnahe 350 bis 400 km. Für ein E-Auto in dieser Klasse im Winter ist das okay. Mehr aber auch nicht.
Praktische Features wie die automatische Türgriff-Funktion, ein digitaler Schlüssel (kommt später) und das durchdachte Google-System zeigen außerdem, dass Renault die kleinen Details ernst nimmt. Allerdings bleibt ein Kritikpunkt: der Preis. Mit mindestens 48.900 Euro für die getestete Variante ist der Scénic alles andere als ein Schnäppchen.
Der Renault Scénic E-Tech Electric ist kein Auto für Adrenalinjunkies, sondern für Menschen, die im Alltag Effizienz und Komfort suchen. Seine Stärken liegen in der Reichweite (mit Winter-Abzügen), der cleveren Technik und einem Design, das ein wenig Extravaganz in die weichgespülte Elektro-SUV-Welt bringt.
Schwächen wie das langsame DC-Laden und der hohe Preis zeigen, dass auch Renault noch nicht ganz perfekt ist. Aber mal ehrlich: Wer mag schon Perfektion? Ein bisschen französischer Charme mit kleinen Ecken und Kanten macht den Scénic zu einem Charakterauto - und das ist mehr, als man von vielen seiner Mitstreiter sagen kann.